Dienstag, 18. Oktober 2011
Gefangenschaft
xnero, 18:45h
Stashkas Finger glitten an dem dicken Glas herunter. Sie ballte die Hand zur Faust und verkroch sich in eine geschützte Ecke in jener Hölle aus Glas und Beton, in der sie sich jeden Morgen, wenn sie einmal mehr die Augen aufschlug, eingeschlossen wiederfand. Es gab keine Hoffnung auf Freiheit, keine Hoffnung auf ein gutes Leben in ihrer Hölle. Sie war allein. Da war nichts, woran sie sich hätte festhalten können. Sogar den Wunsch nach einem schnellen Tod hatte man ihr verwehrt. Man hatte ihr bereits mit Stöcken gedroht und sie geschlagen, doch keine Schmerzen waren mit dem Gefühl vergleichbar, ein Leben in Gefangenschaft zu verbringen. Stashka hatte wohl Geschichten gehört, von weiten grünen Wiesen, wo ein gewaltiger Überfluss herrschte, doch sie konnte sich im Traum nichts darunter vorstellen. Sie wusste ja nicht einmal, was eine „Wiese“ überhaupt sein sollte, kannte sie doch nur den kalten, grauen Beton unter ihren Füßen, auf dem sie schlief, auf dem sie lebte, auf dem sie sich im Zuge ihrer mit den Jahren schwerfällig gewordenen Bewegungen die Gelenke wund rieb. Ihre Exkremente lagen auf dem Boden verstreut und der Gestank nach Ammoniak war bestialisch, gab es doch nicht einmal ein Wasserbecken in dem sie sich hätte waschen können. Zusätzlich litt sie Tag um Tag an Unterbeschäftigung. Was gab es auch zu tun? Die karge Kletterwand und die toten Bäume, die sie ihr zur Beschäftigung zur Verfügung gestellt hatten, wollte sie nicht mehr benutzen. Sie wollte viel lieber Leben unter ihren Füßen fühlen, spüren, dass sie selbst noch am Leben war. Wonach sie sich sehnte, auch wenn sie das nicht wissen konnte, da sie in Gefangenschaft geboren war, war das Gras und die feuchte Erde unter ihren Füßen, die ihre Verwandten in der Freiheit jeden Tag spüren durften, wenn auch unter einem nun nicht mehr ganz so blauen Himmel, wenngleich es auch schwer war, noch einen Flecken unberührten Waldes oder einen sauberen Fluss zu finden. Das Leben in Freiheit war eine Utopie, der sich Stashka während der zahlreichen völlig einsamen Momenten in ihrer Zelle gerne hingab. Und die Momente in denen sie nicht allein war? Die waren noch viel schlimmer. Die Einsamkeit war mit den Blicken der Schweine, die sich wie heiße Nadeln in sie bohrten, wenn sie, die Beine schützend an sich herangezogen, in einer Ecke saß, nicht vergleichbar. Warum nur beobachteten sie sie? Auf was warteten sie voller Erregung, was wollten sie nur von ihr? Sie wollte sich zurückziehen, wollte fliehen, doch in ihrer Hölle gab es keine Zuflucht. Sie konnte sich nicht verstecken, nicht um zu essen, nicht um in Ruhe zu schlafen. Sie bekam immer noch jedes mal Angst, wenn die Schweine mit ihren bleichen toten Händen an das Glas klopften, das sie von Stashka trennte, fürchtete, dass sie zu ihr in den Käfig treten und sie nie wieder allein lassen würden. Die Aussichtslosigkeit der Situation war Stashka bewusst. Hoffnungslosigkeit durchdringt sie jeden Tag, schon, wenn das künstliche Licht an der Decke anspringt und durch das Stahlgitter auf ihren Kopf scheint. Doch das Schlimmste an ihrem Leben war die Routine, die sie an den Rand des Wahnsinns trieb. Die Schweine gestanden ihr keine Ausflüchte zu, es schien ihr sogar, als wollten sie, dass sie endlich den Verstand verlor. Jeden Tag drehten sich ihre Gedanken erneut im Kreis, sah sie dieselben Leichengesichter, die sich mit Kameras in den Händen und ihrer Brut auf dem Arm so nahe an das Glas heran drängten, dass Stashka das Gefühl hatte, zurückweichen zu müssen, um ihnen zu entfliehen. Doch jedes Mal, wenn sie das versuchte, stieß sie mit dem Rücken schon bald an die kalte Betonwand, die das Ende ihrer Welt darstellte. In ihrer Vorstellung gab es längst keine Rettung mehr, sie saß lediglich weiter still in ihrer Ecke und wartete darauf, dass sie endlich alle verschwanden und der Strom jener qualvollen Eindrücke, die auf sie einprasselten, endlich abriss.
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