Sonntag, 30. Oktober 2011
Nadine
xnero, 23:53h
Ich war damals mit meinen 17 Jahren wohl noch ein junges Mädchen, doch das Ende meines Lebens so wie ich es kannte, sollte mich bereits sehr bald ereilen. Heute bin ich 21 Jahre alt und sitze, ebenso tot wie lebendig, trotz allem was geschehen ist hier und schreibe, um meine Geschichte auch Außenstehenden zugänglich zu machen.
Ich war immer schon sehr frühreif gewesen, sowohl mental als auch körperlich weiter entwickelt als die meisten Gleichaltrigen. Anschluss fand ich in der Schule (ich besuchte das öffentliche Gymnasium) schon auf Grund meiner vielleicht etwas eigenen Art keinen. Nicht, dass ich das gewollt hätte, viel mehr grenzte ich mich selber von meinen Klassenkollegen ab, da mich niemand so recht so akzeptieren wollte, wie ich nun einmal war. Hinzu kam noch, dass ich in einer Kleinststadt aufwuchs, die den Titel „Stadt“ nicht einmal wirklich verdient hatte. Selbstverständlich fiel ich hier mit meinen Eigenheiten noch mehr auf. Sprüche wie „ Wie kann man nur so rumlaufen?!“, oder auch „ Die schwarzen Haare und die Kleidung gehen ja noch, aber was sind das für merkwürdige Tattoos?“ hörte ich täglich. Meine Bemühungen um ein halbwegs selbstbewusstes Auftreten schienen aber von Erfolg gekrönt zu sein, denn viele Leute hielten mich für etwas, das ich sicherlich niemals hätte verkörpern können. Lange hatte ich versucht, sogenannte „Freundschaften“ zu den Leuten in meiner Klasse zu etablieren, doch es hatte einfach nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt hatte.
Tatsächlich war ich aber auch einfach viel zu schüchtern und introvertiert, um großartig soziale Kontakte zu pflegen.
Zu meinem Glück allerdings gab es da etwas, oder viel mehr jemanden in dieser Welt, der mir Halt gab, der mich besser zu kennen schien als ich es selbst tat. Ich rede natürlich von Nadine, einem Mädchen aus meinem Ort, das ich kennengelernt hatte, als ich 15 war. Bei ihr konnte ich vergessen, dass ich bei den Anderen verhasst war und mich allzu oft einsam fühlte. Zudem musste ich mir eingestehen, dass zwischen uns eine gewisse romantische Spannung bestand. Mehrmals schon hatten wir an gemeinsamen Abenden durchaus leidenschaftliche Küsse gewechselt. Ich will mich darüber nun nicht beklagen, im Gegenteil: Ich muss zugeben, dass ich in meiner grauen, von Trägheit und Lustlosigkeit geprägten Welt nichts jemals mehr genossen hatte, als ihre Lippen auf meinen zu spüren. Ich glaube, dass sie dabei ähnliche Gefühle hatte. Neu für mich war, dass ich mich eigentlich selbst nicht als lesbisch oder bisexuell empfand und wir uns doch so stark zueinander hingezogen fühlten und keinen Grund sahen, uns diesem Verlangen nicht hinzugeben. Homosexualität ist in unserer Gesellschaft meiner Meinung nach immer noch ein Tabuthema, wenngleich auch die speziell unter Jugendlichen verstärkt stattfindende Aufklärung durch Medien wie Internet und TV hier bereits vieles bewirkt hatte.
Wir achteten dennoch immer gut darauf, dass niemand etwas davon mitbekam, da wir nicht wussten, wie wir ein so komplexes Verhältnis für andere Menschen verständlich machen sollten. Zum Glück war es noch nie so weit gekommen, dass das nötig gewesen wäre. Lediglich einmal war es brenzlig geworden, als wir in Nadines Zimmer bei Kerzenschein unseren Neigungen nachgegangen waren und ihre Mutter plötzlich in der Tür gestanden hatte. Zwar hatten wir uns rechtzeitig voneinander gelöst, doch war die Mutter über den Anblick, der sich ihr bot dennoch verwundert und versuchte an jenem Abend, Nadine Antworten zu entlocken; diese wies allerdings tapfer sämtliche Fragen von sich.
Nun war ich an jenem Tag, an dem mein kurzes menschliches Leben ein jähes Ende finden sollte, auf dem Weg zu Nadine, um mit ihr einmal mehr unseren allwöchentlichen Horrorfilm- Abend abzuhalten. Sie wohnte in einem Haus in der Nähe des Waldes, der sich entlang des kleinen Flusses, der durch die Stadt floss, bis zum nächsten Ort zog. Mein Handy zeigte erst kurz nach sechs Uhr abends an, doch aufgrund der winterlichen Jahreszeit war es bereits dunkel. Im ersten Stock sowie im Parterre des Hauses brannte Licht.
Ich klingelte. Nadine öffnete. Dann fiel sie mir auch schon um den Hals und drückte mir heimlich einen Kuss auf die Wange, nichts weiter, da ihre Mutter bereits in der Tür erschienen war und mich mit einem wie ich meine aufgesetzten Lächeln begrüßte:
„Hallo!“
„Hallo!“, ich wollte einfach nur so schnell wie möglich von ihr weg, nicht nur, da ich mit Nadine allein sein wollte, sondern allein schon aufgrund meiner Abneigung gegenüber ihrer Mutter, die ich immer nur als eine Art Hindernis auf dem Weg zu ihr empfand. Interessant ist an dieser Stelle vielleicht, dass ich sie unter anderen Umständen als „gar nicht so schlimm“ empfunden hätte, ja, wahrscheinlich hätte ich sie sogar gemocht, wäre ihre Tochter nicht das Objekt meiner Begierde. Es durfte sich einfach niemand zwischen uns stellen, das war das Einzige, das mir wichtig war.
Schon während ich Nadine die Treppen nach oben folgte hing mein Blick förmlich an ihren wohlgeformten Beinen, die in einer engen Leggings steckten. Nadine bemerkte offenbar meinen gierigen Blick und warf mir über die Schulter ein Lächeln zu, das ich nur sehr schwer einzuordnen vermochte. Irgendetwas war heute anders an ihr, sie wirkte so erwartungsvoll.
Nadines Zimmer befand sich im ersten Stock. Es war dunkel und ein intensiver Vanille - Geruch drang aus der angelehnten Tür heraus auf den Gang. Die Quelle sowohl des Lichts als auch des erregenden Geruchs war schnell ausgemacht: Duftkerzen. Nadine hatte einfach Geschmack und ein Gefühl dafür, meine Sinne für ihre Annäherungen empfänglich zu machen. Ich war noch dabei, den Duft der Kerzen aufzusaugen, als sie mich mit einem Wink einlud, mich zu ihr auf das Bett zu setzen, während sie den ersten Film auf ihrem Laptop startete. Nachdem ich es mir neben ihr bequem gemacht hatte ließ sie sich tief an der Wand sinken und drängte sich dicht an mich. Ich spürte die Wärme ihres Körpers und den Hauch ihres ruhigen Atems auf meiner Haut, konnte ihr Herz neben meinem leise schlagen hören. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste sie ebenfalls berühren. Vorsichtig streichelte ich durch ihr samtenes schwarzes Haar und ließ meinen Kopf auf ihre Schulter sinken. Es waren wirklich schöne Stunden, die wir mit dem Filme schauen zubrachten, doch natürlich lief dabei nichts. Nun ja, nichts außer Gekuschel, doch das reichte mir vollauf. Ich war auch nicht traurig, als ich nach dem dritten Film bemerkte, dass es schon reichlich spät war, da ich ohnehin bei Nadine übernachten würde.
Es war Viertel vor zwölf, als Nadine endlich den Laptop zuklappte und zur Seite legte. Auf meine Frage, was wohl als nächstes passieren würde, schlang sie einen Arm um meine Hüfte und legte ihr Gesicht an meines, sodass wir Stirn an Stirn nebeneinander da lagen und uns direkt in die Augen sehen konnten. Zwei schnelle Atemzüge lang spürte ich den zärtlichen Hauch über meine Lippen streichen, dann führte sie meine Lippen mit einer weichen Hand an meiner Wange an ihren Erdbeermund und schob mir ihre Zunge in den Mund. Voller Leidenschaft erwiderte ich ihren Kuss. Genau genommen blieb mir kaum eine andere Wahl, denn Nadine wusste ihre Zunge genauso gut einzusetzen wie ihren scharfen Verstand und vermochte es, mich allein durch einen Kuss in einen Zustand zu versetzen in dem ich ihr hilflos ausgeliefert war. Nichts konnte sich dieser Woge unbändiger Lust in den Weg stellen, welche ich in jener Nacht das erste Mal verspürte.
Als Nadine nach mehreren Minuten wieder von mir abließ, ließ sie ihren Mund von meinem mit Knutschflecken übersäten Hals zu meinem rechten Ohr gleiten, an dem sie eine Weile genüsslich knabberte, bevor sie mir leise etwas zuhauchte:
„Ich muss dir unbedingt etwas zeigen...“
Sie sprach so verführerisch, dass mir trotz des eigentlich in keiner Form erotischen Kontexts ein warmes Kribbeln durch den ganzen Körper fuhr. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, was sie mir da gerade gesagt hatte. Mit fiebrigem Blick beobachtete ich, wie sie sich vor mir auf die Knie aufrichtete und mit dem Fauchen einer Raubkatze ihren Mund weit öffnete. Ihre Eckzähne wuchsen auf etwa fünf Zentimeter Länge an und ihre Augen begannen, blutrot zu schimmern. Entsetzt versuchte ich, aufzuspringen und zu fliehen, doch Nadine hielt meinen Arm mit übermenschlicher Kraft fest umklammert. Hilflos fiel ich in ihre Arme. Ich dachte für einen Moment tatsächlich, dass sie mich nun zerfetzen würde, realisierte bereits einen Moment später, dass das vollkommener Schwachsinn war. Ich versuchte, etwas zu sagen, doch sie bedeutete mir, zu schweigen, indem sie mir einen ihrer bleichen Finger, deren Nägel zu langen schwarzen Klauen geworden waren, über den Mund legte.
„Es tut mir Leid, ich wollte Dich nicht schockieren. Wie ich sehe bist Du äußerst überrascht, doch das musst du nicht sein, denn ich sage dir, du kannst auch so wie ich werden, hier und jetzt!“
Verwirrt starrte ich zurück in Nadines rot schimmernde Augen. Sie hatten etwas faszinierendes, wenngleich mir ihre natürlichen Augen besser gefallen hatten. Dennoch war sie ein wunderschönes, geradezu bezauberndes Wesen. Doch was war sie überhaupt? Ein Vampir? Ich beschloss, sie danach zu fragen. „Aber was...?!“, doch ich brachte einfach keinen ganzen Satz zustande.
Nadine lächelte mich verschmitzt an, mit einer Arroganz, die sie in ihrer Überlegenheit zurecht verspürte.
„Nicht überzeugt? Dann sieh dir das an…“, Nadine stand auf und zog ihr Top aus.
„ Nadine, was...?!“, doch ehe ich zu Ende gesprochen hatte stand sie mir mit völlig entblößtem Oberkörper gegenüber. Gierig betrachtete ich ihre nackte Haut, der das Mondlicht, das durch das Fenster als einzige Lichtquelle hereinfiel, zusätzlich einen betörenden Schein verlieh. Das halbnackte Mädchen ignorierte meinen Blick jedoch und streckte die Arme mit geschlossenen Augen von sich, ganz so, als wartete sie auf irgendetwas. Augenblicklich schossen schwarze Flügel aus ihrem Rücken, die aus einer lederähnlichen Membran zu bestehen schienen. Mit wachsendem Staunen betrachtete ich meine beste Freundin. Bevor ich ihr jedoch die Frage stellen konnte, die mir auf der Zunge lag, nahm sie mir die Worte aus dem Mund. „ Ich kann fliegen.“
Nadine trat einen Schritt näher: „ Wir könnten zusammen fliegen, wenn Du willst, müssten nie wieder Verantwortung übernehmen und wir müssten auch nie wieder getrennt sein. Wenn Du willst... was sagst Du?“
Der Anblick ihrer wunderschönen Gestalt sowie der majestätischen Flügel hatte tatsächlich eine Art tiefer Sehnsucht in mir ausgelöst. Ja, ich wollte so sein wie sie. Mit ihr. Nie wieder von ihr getrennt sein.
„ Tu es. Bitte! Ich liebe dich, Nadine.“, ich war selbst davon überrascht, wie flehentlich meine Stimme klang. Nadine aber lächelte nur, trat an mich heran und entkleidete nun auch meinen Oberkörper. Sie drückte mich mit dem Rücken auf das Bett zurück und wir machten weiter wie zuvor. Plötzlich aber hielt sie inne.
„Bist du bereit?“, fragte sie mich. Ich nickte nur. Nach einem weiteren Kuss grub sie ihre langen Fänge tief in das weiche Fleisch an meinem Hals. Ich stöhnte nur vor Schmerz und Erregung auf. Zum Schreien fehlte mir bald die Kraft.
„Zeit zu schlafen, Babe.“, befahl sie mir und ich gehorchte.
Als ich wieder aufwachte war der Tag immer noch nicht angebrochen. Nadine saß auf dem Schreibtischsessel gegenüber vom Bett und beobachtete mich. Ich konnte nicht lange geschlafen haben. Ich richtete mich auf, denn ich hatte das dringende Bedürfnis, eine Runde durch das Zimmer zu gehen, doch Nadine kam mir zuvor. Sie stand auf und kam wieder zu mir ins Bett.
„ Na, wie fühlst du dich?“
Jetzt, da sie es sagte, fiel mir auf, dass ich mich großartig fühlte. Instinktiv fasste ich an meinen Hals, um die Stelle zu begutachten, wo die Wunde hätte sein müssen, doch da war nichts mehr. Blitzschnell richtete ich mich wieder auf und sah Nadine an. Ich fühlte mich so gesund und fit wie nie zuvor, doch da war noch etwas Anderes, das mir Kraft gab. Woher die Macht, die ich spürte, kam, wurde mir schnell klar, als ich aus dem Fenster sah: Der Mond. Die Nacht. Ich wollte unbedingt nach draußen!
„Wenn du raus willst, dann nichts wie los! Lassen wir dieses scheiß Halbleben endlich hinter uns!“
„Ja...“
Der Wunsch, meine soeben neu gewonnenen Kräfte einzusetzen durchfuhr mich wie elektrischer Strom. So viel Kraft. So viel Energie. Außerdem die Gier nach frischem Menschenfleisch, ein ununterdrückbares Verlangen. Nadine sprang auf die Fensterbank und breitete ihre Flügel aus.
„Lass uns Menschen jagen“, rief sie mir mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht zu.
„Ja!“, antwortete ich und bemerkte, wie mein Ausruf in ein grässliches Fauchen überging, wie mir Fänge, Klauen und Flügel wuchsen und ein berauschendes Machtgefühl in jede Faser meines Körpers dran, das mit keiner irdischen Empfindung zu vergleichen war. Es war einfach purer Wahnsinn, die unendliche Kraft.
Ich trat zu Nadine an das Fensterbrett und schmiegte meinen Körper wie eine Katze dicht an ihren, während sie mich mit ihren Flügeln umschloss. Ich küsste sie. Dann sprang sie. Ich machte ebenfalls einen Satz auf die Fensterbank, zögerte aber, zu springen. Immerhin befanden wir uns im ersten Stock. Mir wurde etwas mulmig in der Magengegend, wenn ich an das Gefühl des Fallens dachte, doch schließlich obsiegte das Bewusstsein, dass mich Nichts und Niemand aufhalten konnte und ich sprang hinaus in die eisig kalten Winde dieser Winternacht. Das Gefühl, das ich verspürte, als ich das erste Mal flog werde ich nie vergessen. Der Wind, der unter meinen Flügeln hindurchzischte, sang mir Lieder von purer Freude, während ich Nadine jubelnd hinterherflog. Und bis zum heutigen Tag macht mich nichts glücklicher, als mit ihr auf schwarzen Schwingen lautlos durch die Nacht zu gleiten, immer auf der Suche nach Beute, um unserer unersättlichen Gier nach Menschenfleisch gerecht zu werden.
Ich war immer schon sehr frühreif gewesen, sowohl mental als auch körperlich weiter entwickelt als die meisten Gleichaltrigen. Anschluss fand ich in der Schule (ich besuchte das öffentliche Gymnasium) schon auf Grund meiner vielleicht etwas eigenen Art keinen. Nicht, dass ich das gewollt hätte, viel mehr grenzte ich mich selber von meinen Klassenkollegen ab, da mich niemand so recht so akzeptieren wollte, wie ich nun einmal war. Hinzu kam noch, dass ich in einer Kleinststadt aufwuchs, die den Titel „Stadt“ nicht einmal wirklich verdient hatte. Selbstverständlich fiel ich hier mit meinen Eigenheiten noch mehr auf. Sprüche wie „ Wie kann man nur so rumlaufen?!“, oder auch „ Die schwarzen Haare und die Kleidung gehen ja noch, aber was sind das für merkwürdige Tattoos?“ hörte ich täglich. Meine Bemühungen um ein halbwegs selbstbewusstes Auftreten schienen aber von Erfolg gekrönt zu sein, denn viele Leute hielten mich für etwas, das ich sicherlich niemals hätte verkörpern können. Lange hatte ich versucht, sogenannte „Freundschaften“ zu den Leuten in meiner Klasse zu etablieren, doch es hatte einfach nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt hatte.
Tatsächlich war ich aber auch einfach viel zu schüchtern und introvertiert, um großartig soziale Kontakte zu pflegen.
Zu meinem Glück allerdings gab es da etwas, oder viel mehr jemanden in dieser Welt, der mir Halt gab, der mich besser zu kennen schien als ich es selbst tat. Ich rede natürlich von Nadine, einem Mädchen aus meinem Ort, das ich kennengelernt hatte, als ich 15 war. Bei ihr konnte ich vergessen, dass ich bei den Anderen verhasst war und mich allzu oft einsam fühlte. Zudem musste ich mir eingestehen, dass zwischen uns eine gewisse romantische Spannung bestand. Mehrmals schon hatten wir an gemeinsamen Abenden durchaus leidenschaftliche Küsse gewechselt. Ich will mich darüber nun nicht beklagen, im Gegenteil: Ich muss zugeben, dass ich in meiner grauen, von Trägheit und Lustlosigkeit geprägten Welt nichts jemals mehr genossen hatte, als ihre Lippen auf meinen zu spüren. Ich glaube, dass sie dabei ähnliche Gefühle hatte. Neu für mich war, dass ich mich eigentlich selbst nicht als lesbisch oder bisexuell empfand und wir uns doch so stark zueinander hingezogen fühlten und keinen Grund sahen, uns diesem Verlangen nicht hinzugeben. Homosexualität ist in unserer Gesellschaft meiner Meinung nach immer noch ein Tabuthema, wenngleich auch die speziell unter Jugendlichen verstärkt stattfindende Aufklärung durch Medien wie Internet und TV hier bereits vieles bewirkt hatte.
Wir achteten dennoch immer gut darauf, dass niemand etwas davon mitbekam, da wir nicht wussten, wie wir ein so komplexes Verhältnis für andere Menschen verständlich machen sollten. Zum Glück war es noch nie so weit gekommen, dass das nötig gewesen wäre. Lediglich einmal war es brenzlig geworden, als wir in Nadines Zimmer bei Kerzenschein unseren Neigungen nachgegangen waren und ihre Mutter plötzlich in der Tür gestanden hatte. Zwar hatten wir uns rechtzeitig voneinander gelöst, doch war die Mutter über den Anblick, der sich ihr bot dennoch verwundert und versuchte an jenem Abend, Nadine Antworten zu entlocken; diese wies allerdings tapfer sämtliche Fragen von sich.
Nun war ich an jenem Tag, an dem mein kurzes menschliches Leben ein jähes Ende finden sollte, auf dem Weg zu Nadine, um mit ihr einmal mehr unseren allwöchentlichen Horrorfilm- Abend abzuhalten. Sie wohnte in einem Haus in der Nähe des Waldes, der sich entlang des kleinen Flusses, der durch die Stadt floss, bis zum nächsten Ort zog. Mein Handy zeigte erst kurz nach sechs Uhr abends an, doch aufgrund der winterlichen Jahreszeit war es bereits dunkel. Im ersten Stock sowie im Parterre des Hauses brannte Licht.
Ich klingelte. Nadine öffnete. Dann fiel sie mir auch schon um den Hals und drückte mir heimlich einen Kuss auf die Wange, nichts weiter, da ihre Mutter bereits in der Tür erschienen war und mich mit einem wie ich meine aufgesetzten Lächeln begrüßte:
„Hallo!“
„Hallo!“, ich wollte einfach nur so schnell wie möglich von ihr weg, nicht nur, da ich mit Nadine allein sein wollte, sondern allein schon aufgrund meiner Abneigung gegenüber ihrer Mutter, die ich immer nur als eine Art Hindernis auf dem Weg zu ihr empfand. Interessant ist an dieser Stelle vielleicht, dass ich sie unter anderen Umständen als „gar nicht so schlimm“ empfunden hätte, ja, wahrscheinlich hätte ich sie sogar gemocht, wäre ihre Tochter nicht das Objekt meiner Begierde. Es durfte sich einfach niemand zwischen uns stellen, das war das Einzige, das mir wichtig war.
Schon während ich Nadine die Treppen nach oben folgte hing mein Blick förmlich an ihren wohlgeformten Beinen, die in einer engen Leggings steckten. Nadine bemerkte offenbar meinen gierigen Blick und warf mir über die Schulter ein Lächeln zu, das ich nur sehr schwer einzuordnen vermochte. Irgendetwas war heute anders an ihr, sie wirkte so erwartungsvoll.
Nadines Zimmer befand sich im ersten Stock. Es war dunkel und ein intensiver Vanille - Geruch drang aus der angelehnten Tür heraus auf den Gang. Die Quelle sowohl des Lichts als auch des erregenden Geruchs war schnell ausgemacht: Duftkerzen. Nadine hatte einfach Geschmack und ein Gefühl dafür, meine Sinne für ihre Annäherungen empfänglich zu machen. Ich war noch dabei, den Duft der Kerzen aufzusaugen, als sie mich mit einem Wink einlud, mich zu ihr auf das Bett zu setzen, während sie den ersten Film auf ihrem Laptop startete. Nachdem ich es mir neben ihr bequem gemacht hatte ließ sie sich tief an der Wand sinken und drängte sich dicht an mich. Ich spürte die Wärme ihres Körpers und den Hauch ihres ruhigen Atems auf meiner Haut, konnte ihr Herz neben meinem leise schlagen hören. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste sie ebenfalls berühren. Vorsichtig streichelte ich durch ihr samtenes schwarzes Haar und ließ meinen Kopf auf ihre Schulter sinken. Es waren wirklich schöne Stunden, die wir mit dem Filme schauen zubrachten, doch natürlich lief dabei nichts. Nun ja, nichts außer Gekuschel, doch das reichte mir vollauf. Ich war auch nicht traurig, als ich nach dem dritten Film bemerkte, dass es schon reichlich spät war, da ich ohnehin bei Nadine übernachten würde.
Es war Viertel vor zwölf, als Nadine endlich den Laptop zuklappte und zur Seite legte. Auf meine Frage, was wohl als nächstes passieren würde, schlang sie einen Arm um meine Hüfte und legte ihr Gesicht an meines, sodass wir Stirn an Stirn nebeneinander da lagen und uns direkt in die Augen sehen konnten. Zwei schnelle Atemzüge lang spürte ich den zärtlichen Hauch über meine Lippen streichen, dann führte sie meine Lippen mit einer weichen Hand an meiner Wange an ihren Erdbeermund und schob mir ihre Zunge in den Mund. Voller Leidenschaft erwiderte ich ihren Kuss. Genau genommen blieb mir kaum eine andere Wahl, denn Nadine wusste ihre Zunge genauso gut einzusetzen wie ihren scharfen Verstand und vermochte es, mich allein durch einen Kuss in einen Zustand zu versetzen in dem ich ihr hilflos ausgeliefert war. Nichts konnte sich dieser Woge unbändiger Lust in den Weg stellen, welche ich in jener Nacht das erste Mal verspürte.
Als Nadine nach mehreren Minuten wieder von mir abließ, ließ sie ihren Mund von meinem mit Knutschflecken übersäten Hals zu meinem rechten Ohr gleiten, an dem sie eine Weile genüsslich knabberte, bevor sie mir leise etwas zuhauchte:
„Ich muss dir unbedingt etwas zeigen...“
Sie sprach so verführerisch, dass mir trotz des eigentlich in keiner Form erotischen Kontexts ein warmes Kribbeln durch den ganzen Körper fuhr. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, was sie mir da gerade gesagt hatte. Mit fiebrigem Blick beobachtete ich, wie sie sich vor mir auf die Knie aufrichtete und mit dem Fauchen einer Raubkatze ihren Mund weit öffnete. Ihre Eckzähne wuchsen auf etwa fünf Zentimeter Länge an und ihre Augen begannen, blutrot zu schimmern. Entsetzt versuchte ich, aufzuspringen und zu fliehen, doch Nadine hielt meinen Arm mit übermenschlicher Kraft fest umklammert. Hilflos fiel ich in ihre Arme. Ich dachte für einen Moment tatsächlich, dass sie mich nun zerfetzen würde, realisierte bereits einen Moment später, dass das vollkommener Schwachsinn war. Ich versuchte, etwas zu sagen, doch sie bedeutete mir, zu schweigen, indem sie mir einen ihrer bleichen Finger, deren Nägel zu langen schwarzen Klauen geworden waren, über den Mund legte.
„Es tut mir Leid, ich wollte Dich nicht schockieren. Wie ich sehe bist Du äußerst überrascht, doch das musst du nicht sein, denn ich sage dir, du kannst auch so wie ich werden, hier und jetzt!“
Verwirrt starrte ich zurück in Nadines rot schimmernde Augen. Sie hatten etwas faszinierendes, wenngleich mir ihre natürlichen Augen besser gefallen hatten. Dennoch war sie ein wunderschönes, geradezu bezauberndes Wesen. Doch was war sie überhaupt? Ein Vampir? Ich beschloss, sie danach zu fragen. „Aber was...?!“, doch ich brachte einfach keinen ganzen Satz zustande.
Nadine lächelte mich verschmitzt an, mit einer Arroganz, die sie in ihrer Überlegenheit zurecht verspürte.
„Nicht überzeugt? Dann sieh dir das an…“, Nadine stand auf und zog ihr Top aus.
„ Nadine, was...?!“, doch ehe ich zu Ende gesprochen hatte stand sie mir mit völlig entblößtem Oberkörper gegenüber. Gierig betrachtete ich ihre nackte Haut, der das Mondlicht, das durch das Fenster als einzige Lichtquelle hereinfiel, zusätzlich einen betörenden Schein verlieh. Das halbnackte Mädchen ignorierte meinen Blick jedoch und streckte die Arme mit geschlossenen Augen von sich, ganz so, als wartete sie auf irgendetwas. Augenblicklich schossen schwarze Flügel aus ihrem Rücken, die aus einer lederähnlichen Membran zu bestehen schienen. Mit wachsendem Staunen betrachtete ich meine beste Freundin. Bevor ich ihr jedoch die Frage stellen konnte, die mir auf der Zunge lag, nahm sie mir die Worte aus dem Mund. „ Ich kann fliegen.“
Nadine trat einen Schritt näher: „ Wir könnten zusammen fliegen, wenn Du willst, müssten nie wieder Verantwortung übernehmen und wir müssten auch nie wieder getrennt sein. Wenn Du willst... was sagst Du?“
Der Anblick ihrer wunderschönen Gestalt sowie der majestätischen Flügel hatte tatsächlich eine Art tiefer Sehnsucht in mir ausgelöst. Ja, ich wollte so sein wie sie. Mit ihr. Nie wieder von ihr getrennt sein.
„ Tu es. Bitte! Ich liebe dich, Nadine.“, ich war selbst davon überrascht, wie flehentlich meine Stimme klang. Nadine aber lächelte nur, trat an mich heran und entkleidete nun auch meinen Oberkörper. Sie drückte mich mit dem Rücken auf das Bett zurück und wir machten weiter wie zuvor. Plötzlich aber hielt sie inne.
„Bist du bereit?“, fragte sie mich. Ich nickte nur. Nach einem weiteren Kuss grub sie ihre langen Fänge tief in das weiche Fleisch an meinem Hals. Ich stöhnte nur vor Schmerz und Erregung auf. Zum Schreien fehlte mir bald die Kraft.
„Zeit zu schlafen, Babe.“, befahl sie mir und ich gehorchte.
Als ich wieder aufwachte war der Tag immer noch nicht angebrochen. Nadine saß auf dem Schreibtischsessel gegenüber vom Bett und beobachtete mich. Ich konnte nicht lange geschlafen haben. Ich richtete mich auf, denn ich hatte das dringende Bedürfnis, eine Runde durch das Zimmer zu gehen, doch Nadine kam mir zuvor. Sie stand auf und kam wieder zu mir ins Bett.
„ Na, wie fühlst du dich?“
Jetzt, da sie es sagte, fiel mir auf, dass ich mich großartig fühlte. Instinktiv fasste ich an meinen Hals, um die Stelle zu begutachten, wo die Wunde hätte sein müssen, doch da war nichts mehr. Blitzschnell richtete ich mich wieder auf und sah Nadine an. Ich fühlte mich so gesund und fit wie nie zuvor, doch da war noch etwas Anderes, das mir Kraft gab. Woher die Macht, die ich spürte, kam, wurde mir schnell klar, als ich aus dem Fenster sah: Der Mond. Die Nacht. Ich wollte unbedingt nach draußen!
„Wenn du raus willst, dann nichts wie los! Lassen wir dieses scheiß Halbleben endlich hinter uns!“
„Ja...“
Der Wunsch, meine soeben neu gewonnenen Kräfte einzusetzen durchfuhr mich wie elektrischer Strom. So viel Kraft. So viel Energie. Außerdem die Gier nach frischem Menschenfleisch, ein ununterdrückbares Verlangen. Nadine sprang auf die Fensterbank und breitete ihre Flügel aus.
„Lass uns Menschen jagen“, rief sie mir mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht zu.
„Ja!“, antwortete ich und bemerkte, wie mein Ausruf in ein grässliches Fauchen überging, wie mir Fänge, Klauen und Flügel wuchsen und ein berauschendes Machtgefühl in jede Faser meines Körpers dran, das mit keiner irdischen Empfindung zu vergleichen war. Es war einfach purer Wahnsinn, die unendliche Kraft.
Ich trat zu Nadine an das Fensterbrett und schmiegte meinen Körper wie eine Katze dicht an ihren, während sie mich mit ihren Flügeln umschloss. Ich küsste sie. Dann sprang sie. Ich machte ebenfalls einen Satz auf die Fensterbank, zögerte aber, zu springen. Immerhin befanden wir uns im ersten Stock. Mir wurde etwas mulmig in der Magengegend, wenn ich an das Gefühl des Fallens dachte, doch schließlich obsiegte das Bewusstsein, dass mich Nichts und Niemand aufhalten konnte und ich sprang hinaus in die eisig kalten Winde dieser Winternacht. Das Gefühl, das ich verspürte, als ich das erste Mal flog werde ich nie vergessen. Der Wind, der unter meinen Flügeln hindurchzischte, sang mir Lieder von purer Freude, während ich Nadine jubelnd hinterherflog. Und bis zum heutigen Tag macht mich nichts glücklicher, als mit ihr auf schwarzen Schwingen lautlos durch die Nacht zu gleiten, immer auf der Suche nach Beute, um unserer unersättlichen Gier nach Menschenfleisch gerecht zu werden.
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